Hufeisen zu altmetall

extremismustheorie zerschlagen!

„Wo sind all die Linksradikalen?“ singen Egotronic im Song „Linksradikale“. In der Tat kann man sich diese Frage nach den Presseberichten der letzten Wochen und Monate durchaus stellen:

„Wie gewaltbereit ist die linke Szene?“ fragte zum Beispiel die Tagesschau Ende November. „Die linksextreme Szene wird gefährlicher“ titelte die SZ am gleichen Tag. Eine Reportage über „Brandanschläge und Morddrohungen – Linksextremismus in Deutschland“ gab es passend dazu im ZDF. Das niedersächsische Justizministerium veranstaltete sogar eine Fachtagung „Linksextremismus“.

Zu unserer Playlist: „Sound of Verfassungsschutz“


Angesichts dieser Diskursverschiebung in Richtung eines angeblichen Linksterrorismus könnte man glatt vergessen, dass quasi seit Jahren fast täglich rechte Netzwerke innerhalb deutscher Sicherheitsbehörden auffliegen und sich rechte Milizen für einen ersehnten Bürgerkrieg rüsten.

Doch woher kommt diese wahnhafte Gleichsetzung von links und rechts? Sie hat ihren Ursprung in der sogenannten Extremismustheorie, welche eigentlich eher eine politische Doktrin ist, als eine wissenschaftliche Theorie. Die Grundannahme dahinter ist recht einfach: Demokratie ist wie eine Straße, geht man zu weit links oder rechts, dann landet man im Graben.

In dieser Kampagne wollen wir euch deshalb erklären, warum die Extremismustheorie wissenschaftlich kaum haltbar und politisch sogar gefährlich ist. Los geht’s!

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Zitate-Quiz: Wer hat’s gesagt?

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Die Hufeisentheorie
„Extremismus ist […] ein politischer Begriff für ein real nicht existierendes Phänomen, das von einigen Politolog(:innen) erfunden wurde, die ihre Erfindung überdies völlig unzureichend begründet haben.“ (Wippermann 2009). Obwohl in der Politikwissenschaft schon mehrfach belegt worden ist, dass die Extremismus-Theorie empirisch nicht tragfähig ist (vgl. Neugebauer 2009), wird sie im politischen Diskurs immer wieder verwendet.
Gerade das Beispiel Thüringen zeigt, warum dieses unwissenschaftliche Konzept immer und immer wieder verwendet wird: Propaganda. So erklärt auch der Politologe Robert Feustel: „Ramelow und seine Linkspartei vertreten eine Art Sozialdemokratie alter Schule. Höcke dagegen ist ein faschistischer Agitator, dessen Jugendorganisation sich nicht zufällig mitunter Höckejugend nennt“. Er kritisiert die Verwendung des Hufeisenschemas: „Wer solche Vergleiche mithilfe einer so falschen und eingeübten Extremismusrhetorik anstellt, macht sich schuldig.“ Schon Wolfgang Wippermann kritisierte die Totalitarismustheorie als politischen Kampfbegriff, selbiges kann man auch beim Nachfolger – der Hufeisentheorie – tun.
Bei der Betrachtung des Hufeisenschemas, eingeführt von Uwe Backes, wird deutlich, dass es ihm an jeder empirischen Entsprechung in der Realität mangelt. Durch das Hufeisenmodell wird „Links-“ und „Rechtsextremismus“ in Bezug auf die formal definierte gesellschaftliche Mitte gleichgesetzt. Mitunter werden sie auch als funktional gleichartig, vereinfacht als Bedrohung der Mehrheitsdemokratie, eingestuft. Dabei werden grundlegende Unterschiede zwischen „Links-“ und „Rechtsextremismus“ ideologisch-ignorant fallen gelassen.
Zudem ignoriert das Hufeisenmodell die Heterogenität in den kategorisierten Positionen (Link 1991) komplett. Gerade im rechten Raum werden forschungsabhängig sechs bis zwölf Dimensionen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit festgemacht. (vgl. Decker/Brähler 2006: 21; Möller 2017: 428f.). Die Autoren der Autoritarismus-Studien Decker und Brähler entwickelten dazu sechs rechtsextreme Einstellungsmuster: Befürwortung einer rechtsgerichteten Diktatur, Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus sowie die Verharmlosung des Nationalsozialismus.
Die Hufeisentheorie setzt diese Einstellungsmuster mit einer linken Ideologie gleich, wodurch gerade die Unterschiede zwischen beiden Positionen verloren gehen können, was wiederum zu einer Verharmlosung neonazistischer und menschenfeindlicher Phänomene führt. Im Kommentar von Feustel wird deutlich: „Während die einen also Menschen fortschaffen und sterben lassen wollen, treten die anderen gerade dagegen an.“
Eine weitere Folge der Hufeisentheorie ist die „normative Aufwertung der abstrakten politischen Mitte“, die definitionsgemäß nie, „extremistisch sein kann und von ihren Willensinhalten stets unproblematisch ist.“ (Büttner 2015).
Die dargestellte Bipolarität im Hufeisenmodell führt dazu, dass Extremismus als etwas definiert wird, was sich nur an den Polen befindet und es so zu einer „Ausblendung rechter Ressentiments in der Mitte der Gesellschaft“ (Siegfried Jäger) kommt. Der Mythos der „demokratischen Mitte“, die immer dort ist, wo sich der eigene Standort befindet, führt zu einer Immunität gegenüber einer Selbstreflexion der eigenen Radikalisierung nach rechts. Eigenes rechtes Gedankengut wird in der „Mitte der Gesellschaft“ nicht erkannt, wodurch Mitglieder der CDU und der FDP Steigbügelhalter:innen von marktradikalen Faschist:innen werden, um so eine nicht-marktradikale Linke zu bekämpfen (vgl. Baum 2020). So dient die Extremismustheorie als politische Waffe der Rechten. Es reicht, sich als „Mitte zu deklarieren, um sich von ihren ‚rechtsextremen‘ Bundes- und Gesinnungsgenossen formal abgrenzen und von den wahren Gefahren ablenken zu können, die von oben und aus eben dieser Mitte der Gesellschaft drohen.“ „Umgekehrt muss die (angebliche!) antidemokratische Zielsetzung der ‚Linksextremen‘ gar nicht erst bewiesen werden.“
Zudem ist der Extremismusbegriff aus der juristischen Perspektive nicht vertretbar, da der Verfassungsschutz seine Kompetenz überschreitet, indem er die Ideologie des Extremismus verwendet, obwohl dies kein Rechtsbegriff darstellt (vgl. Wippermann 2010).
Der Extremismusbegriff taucht weder im Grundgesetz, noch in einer anderen Rechtsnorm auf. Der Verfassungsschutz nutzt ein rechtlich nicht kodifiziertes Einordnungsmuster, wobei es zu einer Verschiebung von einer inhaltlich-politischen Auseinandersetzung (Bewertung von Inhalten und Legitimität der Position), zu einer formal-normativen auftretenden Grenzziehung kommt. Obwohl das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 08.12.2010 entscheiden hat, dass der Extremismusbegriff kein Rechtsbegriff ist, ist er gängige Praxis beim VS und führt zu Ausgrenzungen von Personen bzw. Gruppen. Wobei alles, was vom Verfassungsschutz als „extremistisch“ bezeichnet wird, an den Rand, ans Äußere und unterschiedslos in Illegitime gedrängt wird. Dadurch liegt die Definitionshoheit über das politische Meinungsspektrum beim Verfassungsschutz, welcher jedoch auch die Disziplinarmacht innehat, da er die Legalität politischer Meinungsäußerungen erklärt (vgl. Büttner 2015).  So wird „an allem nicht einstimmenden […] Zensur geübt.“ (Adorno 2003)
Was sind Extremismus & Radikalismus in der klassischen Definition?
Rechts und Links werden schon relativ lange gleichgesetzt, seit etwa hundert Jahren um genau zu sein. Die Ursprünge der Ideologie, die sich heute in der Hufeisentheorie äußert, liegen in den 1920er Jahren. Damals begannen vor allem italienische und deutsche Wissenschaftler:innen den Faschismus theoretisch zu begreifen. Der Liberale Giovanni Amendola war der erste, der den Faschismus als ein totalitäres System bezeichnete. Später erweiterte er diesen Begriff und schloss auch den sowjetischen Bolschewismus mit ein. In Deutschland griff unter anderen Otto Bauer dieses Theorem auf und begriff sowohl Nationalsozialismus als auch den Bolschewismus als Herrschaft einer Herrschaftsgruppe über alle Klassen, also als totalitäre Systeme. Auch in den Diskurs der USA fand die Totalitarismustheorie ihren Weg. Jedoch verschwand sie wieder, als die USA 1941 zusammen mit der Sowjetunion gegen den Faschismus kämpfte. Als die Sowjets aber auf einmal wieder Feinde waren, lebte sie mit dem kalten Krieg wieder auf.
Verschiedene Wissenschaftler:innen, z.B. Hannah Arendt, begriffen totalitäre Gesellschaften als solche, die ihre Herrschaft über eine herrschende Ideologie und Terror sicherten. Damit ignorierten sie aber völlig den Fakt, dass auch die Herrschaft im bürgerlichen Staat über eine Ideologie gesichert wird und zeigten den Unterschied zwischen faschistischer und bolschewistischer Gewalt nicht ausreichend auf. Erstere ist immanenter Bestandteil und Existenzbedingung des Faschismus, während der Bolschewismus Gewalt zur Verfolgung und Unterdrückung politisch Unliebsamer nutzte. Die Totalitarismustheorie verlor an Popularität nach Stalins Tod, es begann sich der Extremismusbegriff durchzusetzen, der die gleiche Ideologie verkündete und sie nur anders benannte.
Extremistisch sind laut Verfassungsschutz diejenigen Aktivitäten, die darauf abzielen, die Grundwerte der freiheitlichen Demokratie zu beseitigen. So definiert das Bundesamt für Verfassungsschutz den Begriff Extremismus. Im Klartext heißt das im Übrigen, Extremist:in ist, wer sich gegen die Verfassung stellt. Diese Definition nutzen die meisten größeren deutschen Medien und auch im politischen Diskurs ist sie nahezu allgegenwärtig. Außerdem hat sie tatsächlich einen vermeintlich wissenschaftlichen Background. Eckhard Jesse, Politologe, entwickelte die sogenannte „Hufeisentheorie“, tat dies dennoch auf Basis der Definition des Verfassungsschutzes. Seine ausformulierte Hufeisentheorie besagt, dass sich die linken und rechten Ränder in einem politischen Spektrum, das von einer Anordnung Rechts-Mitte-Links ausgeht, je weiter man nach außen geht, treffen und das Gleiche, Extremismus, werden. Dabei sei dann die ursprüngliche Motivation und die eigentlichen Aktivitäten der „Extremist:innen“ egal. Sie werden auf das Merkmal reduziert, dass sie sich gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung, also die bestehende Ordnung wenden bzw. sich vorstellen können, dieses unter den passenden Umständen, also im Zuge einer Revolution zu tun. Es unterscheidet jedoch weiterhin zwischen Radikalismus und Extremismus. Im Unterschied zum Extremismus, sei Radikalismus laut Verfassungsschutz die Denk- und Handlungsart, Probleme von der Wurzel zu denken und zu lösen. Der Begriff kommt vom Latinischen „radix“, was einfach nur Wurzel heißt. Er unterscheide sich vom Extremismus dadurch, dass er auf dem Boden der Verfassung stehe.
Zahlen und Fakten zur Extremismustheorie
In der medialen Berichterstattung wird immer wieder der angeblich starke Anstieg „linksextremer Straftaten“ ins Feld geführt, wenn es darum geht eine wachsende Bedrohung für die Demokratie von links zu konstruieren oder links und rechts gleichzusetzen. Doch ein genauerer Blick auf die Statistiken lohnt.
Die Einordnung von Straftaten erfolgt nach der Erfassung durch die Polizei. Über die Motive und Einstellungen lässt sich meist nur spekulieren.
Während 2019 beispielsweise 83% aller Beschädigungen von AfD-Wahlplakaten als „linksextremistische Straftaten“ eingeordnet wurden, wurden nur 45% aller Beschädigungen an Plakaten der Partei DIE LINKE als „rechtsextremistische Straftaten“ eingeordnet. Die Beschädigungen an Plakaten anderer Parteien werden hingegen überwiegend als „nicht zuzuordnen“ vermerkt.
Ebenso weil die Extremismustheorie eine politische Theorie ist, ist die Zuordnung von Straftaten ins Raster von „linksextrem“ oder „rechtsextrem“ ein politischer Akt. Mehr als ein Drittel aller „linksextremen Straftaten“ passierten im seit 30-Jahren CDU-regierten Sachsen, wo seit Jahren, trotz PEGIDA und der Hetzjagden von Chemnitz, eine omnipräsente Gefahr von links fantasiert wird. Das Bemerkenswerte: Mehr als 1300, der fast 2000 als „linksextrem“ klassifizierten Straftaten, gehen auf beschädigte Plakate zurück. Bei den mehr als 2200 als „rechtsextrem“ klassifizierten Straftaten sind es hingegen nur 145.
Aber auch andere „Straftaten“ werden gerne instrumentalisiert, wenn es dem Kampf gegen den vermeintlichen „Linksextremismus“ dient. 2014 stellt der damalige Innenminister Thomas de Maizière eine Statistik zu politisch motivierter Gewalt in Deutschland vor, die besorgniserregend klang: ein Anstieg „linksextremer Kriminalität um 40%“! Doof nur, dass ein Großteil dieser Straftaten auf Sitzblockaden gegen Nazi-Aufmärsche zurückzuführen war. Der niedersächsische Innenminister berichtete, dass die Zahl der „linksextremen Straftaten“ ohne die Sitzblocken bei einer Anti-Nazi-Demo sogar um 20% rückläufig gewesen wäre.
Aber nicht nur Antifaschismus wird mit der Extremismustheorie als demokratiefeindlich stigmatisiert und sogar kriminalisiert. Auch Antikapitalismus steht immer wieder im Fadenkreuz der Verfassungsschützer:innen, denn diese wissen: „Die Basis linksextremistischer Ideologie ist dabei der „Antikapitalismus“ (Quelle BfV).
Dadurch werden viele antikapitalistische Gruppen, wie Beispielsweise die linksjugend [’solid] Bayern im Verfassungsschutzbericht erwähnt.
Folgen der Extremismustheorie
Und diesen Mist glaubt wirklich wer? Leider ja, und die politischen Folgen sind fatal. Eine Mitgliedschaft in einer als „linksextrem“ stigmatisierten Gruppe kann dabei schnell zu Diskriminierungen oder gar dem Ausschluss aus dem öffentlichen Dienst führen. Bekanntheit erlangte ein Fall, wo ein Mitglied des SDS (Studierendenverband der Partei DIE LINKE) und der linksjugend [’solid] aufgrund seines Engagements vom Lehrerberuf ausgeschlossen wurde.
Die Folgen der Extremismustheorie: die pauschale Stigmatisierung antikapitalistischen Engagements als „linksextremistisch“ und das Damoklesschwert beruflicher Konsequenzen schrecken Menschen ab sich politisch zu engagieren.
Als demokratisch betrachtet die Extremismustheorie hingegen nur den Kapitalismus, der zwar Demokratie oft am Firmentor enden lässt, aber was solls. Was ist schon die Forderung einiger Marktradikalen nach der Legalisierung des Organhandels, oder die Losung „die Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme bis zur letzten Patrone verteidigen zu wollen“ (Horst Seehofer) gegen die Forderung nach einem antikapitalistischen „System Change“ (Grund für die Beobachtung von Ende.Gelände durch den VS Berlin)?
Welche Strukturen leiden unter der Extremismusdoktrin?
Betroffen sind einige – gemeint sind wir alle!

Antikapitalismus?- du gemeingefährliche Extremistin
Wir schreiben und reden viel von der Hufeisentheorie, aber inwiefern kann man davon betroffen sein? Es kann so einfach sein und zur Folge haben, dass man im Verfassungsschutzbericht erscheint. Es reicht schon zu schreiben, dass „Wohnen ein Menschenrecht“ sei. So ist es in Baden-Württenberg passiert: Dort stehen die Linksjugend [’solid] Baden-Württenberg und Die Linke.SDS im VS-Bericht. Sie stehen dort natürlich nicht nur wegen dieser absolut richtigen Aussage drin, sondern auch, weil sie richtig erkannt haben, dass der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte ist und es Alternativen gibt.
Der SDS steht ebenfalls im Bericht, weil er gegen das neue Polizeigesetz demonstrierte und in dem Rahmen mit der Roten Hilfe eine Veranstaltung organisierte.

Welcome to Bayern
Aber nicht nur in Baden-Württenberg werden Genoss:innen beobachtet. Auch im Nachbarbundesland Bayern, was seit jeher eine repressive Linie gegen Links fährt, ist die Linksjugend und der SDS von dieser Linie betroffen. Dort stehen auch die Linksjugend [’solid] und der SDS im Verfassungsschutzbericht,
da diese den Kapitalismus überwinden und sich für Umweltschutz einsetzen. Ganz in der Tradition des unter Willy Brandt eingeführten Radikalenerlass, hat Bayern eine „Bekanntmachung über die Pflicht zur Verfassungstreue im öffentlichen Dienst“. Neben unseren Genoss:innen stehen da auch so „sympathische“ Gruppen wie die NPD oder Scientology in dem vierseitigen Dokument. Diese Bekanntmachung hat ganz praktische Folgen: Benedikt Glasl ist angehender Lehrer. Als Student und Mitglied der linksjugend[’solid] bzw. dessen Studierendenverband SDS hat er sich gegen Studiengebühren und militärischer Forschung an der Universität engagiert. Als er nach seinem Studium das notwendige Referendariat machen wollte, wurde ihm das verwehrt, obwohl er die zuständige Bezirksregierung von seiner Verfassungstreue überzeugt hatte.
Das Kultusministerium des Landes lehnte ihn aufgrund seiner beschrieben Aktivitäten ab. Er klagte und bekam Recht. Sein Fall ist aber kein Einzelfall.
Viele angehende Lehrer:innen haben in Bayern eine große Angst vor den Konsequenzen und verzichten von vornherein auf politisches Engagement, da sie nicht ihre gesamte Zukunft von einem Gerichtsverfahren abhängig machen wollen.

Terroristen-Anwält:innen und Gefährder-Ökos?
Natürlich trifft es nicht nur unsere Strukturen. Ein weiteres Beispiel ist die bereits erwähnte Rote Hilfe, eine bundesweit aktive „parteiunabhängige strömungsübergreifende linke Schutz- und Solidaritätsorganisation“ mit über 10.000 Mitgliedern. Sie wird in allen Bundesländern, sowie vom Bund in den Berichten aufgeführt. Obwohl sie nur Genoss:innen unterstützen, die von Repressionen finanziell unterstützt werden, werden sie immer wieder als „gewaltorientiert“ bezeichnet. (Der Verfassungsschutz in Bremen musste das inzwischen nach einem Urteil zurücknehmen). Aus dieser Begründung heraus versuchten Hessen und Baden-Württemberg Michael Csaszkóczy eine Einstellung als Lehrer zu verweigern und erteilten ihm so faktisch ein Berufsverbot. Hier haben Gerichte ebenfalls erst nach über drei Jahren entschieden, dass er eingestellt werden muss.
Auch die Umweltbewegung ist von den Folgen der Extremismustheorie betroffen. Ende Gelände wird vom Berliner Verfassungsschutz vorgeworfen, gegen die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ zu sein. Sie fordern nicht etwa, Menschen aufgrund ihres Geburtsortes oder Aussehen zu benachteiligen, sondern einen sofortigen Kohleausstieg und einen Systemwandel („System Change not Climate Change“). Hier wird sichtbar, dass für den VS der Kapitalismus automatisch mit Demokratie und Freiheit gleichgesetzt wird und keine Alternativen zugelassen werden. In dieser Denke warnte u.a. der Verfassungsschutz Hamburg vor möglichen Einflussnahmen von „Linksextremisten“ bei Fridays for Future und sprach ihnen gleichzeitig ein Interesse am Klimaschutz ab. Die Gewerkschaft der deutschen Polizei (GdP) Hamburg forderte sogar, dass sich Fridays for Future zum „Rechtsstaat“ bekennen solle.

Nicht nur Aktivist:innen sind betroffen
Aber nicht nur linke Gruppierungen werden vom Verfassungsschutz beobachtet. Nein, auch Bands werden von den fleißigen deutschen Beamt:innen beobachtet. Es ist eine lustige Vorstellung, dass in verstaubten Amtsstuben „linksextreme“ Musik zu „Recherchezwecken“ gehört wird, aber dennoch haben diese Beobachtungen Folgen für die Bands und die Veranstaltungsorte, wo sie auftreten. Mehreren Bands ist dies 2019 in Sachsen passiert: So standen im VS-Bericht für das Jahr 2018 11 Bands, die als „Linksextrem“ galten. Von rechtsradikalen Bands hingegen stand im Bericht nichts.
Insbesondere eine der linken Bands, die Dresdner Punkband „east german beauties“, war besonders betroffen. So kam es, ausgehend von einen Klick auf „Interessiert“ durch den Zwickauer Bürgermeister bei einer Facebook-Veranstaltung mit ihnen zu einen kleinen Skandal. Die „Sächische.de“ nannte es: „Gewaltiger Eklat um einen Facebook-Klick“. So kam es dazu, dass die „Extremismusbeauftragte“ des Landkreises Mittelsachsen zu einer Absage der Veranstaltung drängte, damit der Jugendclub die Förderung nicht verlieren würde.
Der gleichen Beauftragten sollten bei einer anderen Location Set-Listen zu Durchsicht eingereicht werden. So ein Verhalten stellt eine Erpressung und die Einschränkung der Jugendarbeit dar. „east german beauties“ und drei andere Bands klagten schlussendlich gegen die Nennung und bekamen Recht. Jedoch kam es laut den Bands in der Zwischenzeit zu Schikanen, u.a. durch das Bauamt, durch Polizeipräsenz, Auftrittsverboten und abgesagten Veranstaltungen. Zum Schluss noch eine „witzige“ Anekdote: Die Polizei in Sachsen listet drei Mal in ihrer Statistik zu politisch motivierter Gewalt Pizzabestellungen als linksextreme Straftat auf. An den zahlreichen Beispielen sieht man, dass die Folgen einer unwissenschaftlichen Extremismustheorie jede:n treffen können, der:die sich auch nur im entferntesten als links versteht und/oder aktiv in linken Strukturen ist.
Schwarzbuch des Kommunismus
Jede:r Linke kennt es. In einem Gespräch im privaten Umfeld bewegt sich die Diskussion auf das eigene politische Engagement und nach einer Weile fallen Aussagen wie: „Der Kommunismus hat 100.000.000 Menschen ermordet und die Nazis nur 6.000.000“. Beim Nachfragen nach einer Quelle für diese Behauptung wird, wenn überhaupt, das Schwarzbuch des Kommunismus angegeben. Doch was ist dieses Schwarzbuch? Und ist es eine seriöse Quelle?
Das Schwarzbuch des Kommunismus ist ein Sammelband aus dem Jahr 1997 in dem die „Verbrechen des Kommunismus“ aufgelistet wurden.

Zentrale Thesen des Schwarzbuchs:
– Der Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden war nicht einzigartig.
– Die Totalitarismustheorie ist korrekt und Faschismus und Kommunismus sind vergleichbar.
– Die „linke Idee“ ist insgesamt schon im Ansatz verbrecherisch.
– Antifaschismus ist kommunistische Ideologie, die von den eigenen Verbrechen ablenken soll

Die gefährliche Aktualität
Das Buch wird heute von rechten und Konservativen immer wieder herangezogen und sogar in einer Resolution des Europarates aus dem Jahr 2005
wurde sich auf die Totenberechnung des Schwarzbuches bezogen. In dieser Berechnung werden alle möglichen Opfer, die aus den unterschiedlichsten Gründen umgekommen sind, zusammengefasst. Beispielsweise errechnen die Schwarzbuchautoren für die Sowjetunion 20.000.000 Tote. Darin eingerechnet sind die Truppen der Wehrmacht, die vor Stalingrad gefallen sind, die Opfer der Hungersnot in der Ukraine, Opfer des Bürgerkriegs und die Opfer der Säuberungen Stalins. Abgesehen davon, dass es fraglich ist, eine Invasorenarmee der Nazis überhaupt als Opfer zu bezeichnen, verkennt diese Berechnung jegliche historischen Umstände und schreibt stattdessen alle Toten „dem Kommunismus“ zu. So wird die Hungersnot in der Ukraine, von Stéphane Courtois als intendiert bezeichnet und mit dem Warschauer Ghetto der Nazis verglichen. Belegt wird diese These mit ungenau zitierten Steuererhebungen und nicht mit den tatsächlich produzierten Lebensmitteln und den absoluten Abgaben. Diese würden nämlich die Aussage widerlegen, dass trotz Hungersnot noch die gleichen hohen Abgaben gefordert wurden wie vorher. In Wahrheit wurden die Abgaben nämlich sogar gesenkt. Auch auf den absoluten Gesamtertrag geht der Autor nicht ein, obwohl dieser für das Aufstellen so einer These durchaus relevant ist (vgl. Tauger 1998: 158-168).
Schlecht begründete Behauptungen und absurde Vergleiche wie diese, ziehen sich durch das gesamte Schwarzbuch. Es ist deshalb als politisches Werk zu sehen, welches zwar den Anspruch hat, wissenschaftlich zu sein, diesem aber nicht gerecht wird. Die Autor:innen schrecken dabei auch nicht vor Verharmlosung des Nationalsozialismus zurück. Beispielsweise wird sich positiv auf den Historiker Ernst Nolte und seine Thesen bezogen. Dieser ist unter anderem durch den Historikerstreit bekannt geworden, in dem er, neben anderen problematischen Thesen, Fragen wie diese stellte:
„Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ‚asiatische‘ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ‚asiatischen‘ Tat betrachteten? War nicht der ‚Archipel Gulag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ‚Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ‚Rassenmords‘ der Nationalsozialisten? Sind Hitlers geheimste Handlungen nicht gerade auch dadurch zu erklären, daß er den ‚Rattenkäfig‘ nicht vergessen hatte? Rührte Auschwitz vielleicht in seinen Ursprüngen aus einer Vergangenheit her, die nicht vergehen wollte?“

Abschließend ist zu sagen, dass das Schwarzbuch des Kommunismus sich nicht eignet, um den Realsozialismus auf eine differenzierte Art und Weise zu kritisieren. Wir sollten es daher als das sehen was es ist: Ein Pamphlet mit dem Ziel Linke zu delegitimieren.
Anwendung der „Hufeisentheorie“ in linken & linksliberalen Diskursen
Die „Hufeisentheorie“ als Variante der Totalitarismustheorie wird in ihrer Form zwar von progressiven und linken Kräften abgelehnt, weil eben eine Gleichsetzung von linkem und rechtem „Extremismus“ weder empirisch noch inhaltlich belegbar ist; dennoch findet sie Anwendung in der Auseinandersetzung mit faschistischen und rechtsradikalen Kräften. Besonders bürgerlich-antifaschistisches Engagement, welches auch von linken ohne Klassenperspektive vertreten wird, legitimiert sich 1. durch die direkte Distanz von rechtem Gedankengut und 2. durch eine indirekte Distanz von linkem Gedankengut. Eine Aussage wie „Gegen Nazis zu sein ist nicht linksextrem, sondern normal“ mag auf dem ersten Blick vernünftig klingen, rezipiert aber das „Hufeisenmodell“ strukturell dahingehend, weil gerade durch die unterschiedlichen Stufen der Distanzierung mindestens eine Gemeinsamkeit von rechtem und linken Gedankengut angenommen wird.
Der mehr und mehr libertär-konservative Gesellschaftsdiskurs in Deutschland weist gerne auf eine linke Gefahr hin. Durch diesen Duktus wird antifaschistisches Engagement in die Position gezwungen, mindestens indirekt eine Distanzierung zu formulieren, die aber weitaus weniger kategorisch ist als zur rechten Gewalt. Diese Methodik wird dabei auch von linken Medien, wie beispielsweise der antirassistischen „Freiheitsliebe“, aber auch der orthodox-antiimperialistischen „jungen Welt“ vorangetrieben, die immer wieder auf den Dualismus zitierend oder direkt hinwirken, dass Antifaschismus keine linke Ideologie ist (was primär stimmt), und es hiernach zu einer Abwendung kommen muss.
Sound of Verfassungsschutz – unsere Hits aus den VS-Berichten!
Viele kennen es. Man sitzt im Büro und hört nebenbei Musik. So geht es scheinbar auch den Mitarbeiter:innen des Verfassungsschutzes. Doch was für viele reine Arbeitsvermeidung ist, gehört für den VS scheinbar zum Kampf gegen vermeintliche Feinde der Demokratie.
So finden sich in den Verfassungsschutzberichten der letzten Jahre immer wieder linke Bands. Das prominenteste Beispiel ist dabei wohl die Punk-Band Feine Sahne Fischfilet, die es sogar drei Mal in Folge in den Bericht der mecklenburgischen Verfassungsschützer:innen schaffte. Grund sei ihre anti-staatliche Haltung gewesen.
Aber auch das sächsische „Wir sind mehr“ Konzert, welches eine Reaktion auf die rassistischen Hetzjagden in Chemnitz darstellte, schaffte es schon in den VS-Bericht. Begründet wurde dies mit „Alerta, alerta antifascista“- Rufen während des Konzertes, dem Auftritt von Feine Sahne Fischfilet und der Danksagung der Band KIZ an Antifaschist:innen.
Das Ergebnis der Stigmatisierung linker Bands durch den Verfassungsschutz? Der VS-Bericht hat sich in den letzten Jahren durchaus zu einem respektablen Musikratgeber entwickelt, wo man mal blättern kann, wenn man Tipps für coole linke Bands braucht.
Ihr findet deswegen jetzt auch endlich ein Best Of aus den Verfassungsschutzberichten auf Spotify und YouTube!
If I can’t dance, it‘s not my left extremism!

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